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Trübsal blasen

Wenn Krankheit zur Schande wird

Die Geschichte über Scham, über die Angst vor dem Gerede und den ständigen Blick eines Dorfes, in dem jeder jeden kennt, erzählt vom Rückzug aus der Gemeinschaft und von der Frage: Was bin ich wert, wenn ich nicht arbeiten kann?

Die Mutter ergreift das Wort. Sie holt tief Luft, das lässt die Anwesenden vermuten, etwas Wichtiges komme jetzt. Eine Ankündigung oder eine neue grandiose Idee aus ihrem alternden Gehirn? „Ich war diese Woche beim Frisör. Und da hat mich der Gilbert gefragt, was denn die Mathilda jetzt mache.“ Pause. „Und ich hab nicht gewusst, was ich sagen soll.“ 
„Warum interessiert den Gilbert, was ich tu?“, schießt Mathilda an das andere Ende der Tafel. „Ja weil wir eben so geredet haben und da hat er nach dir gefragt.“ „Was interessiert das den? Ich kenn den ja gar nicht!“ Mathilda hofft, das Gespräch damit abzuwürgen. Die Mutter lässt nicht locker. „Ja, was soll ich denn sagen, wenn ich gefragt werde?“ Die anderen Gäste mischen sich ein. Machen Witze, was die Mutter ihrem Frisör alles erzählen könnte. Sie wartet bis das Gelächter verebbt und holt wieder Luft: „Sag mir doch, was ich sagen soll, wenn mich jemand nach dir fragt“.

Mathilda ist seit dreißig Jahren aus diesem Kuhdorf weg. Kein Hahn hat nach ihr gekräht. Warum um alles in der Welt erinnern sich die Leute plötzlich ihrer?

Niemand fragt, wie es Mathilda geht. Sondern was sie tut. Es ist ihr peinlich, dass sie nichts tut. Erwerbsunfähig. UNFÄHIG.

Das Wort würgt, drück die Kehle zu. Über unfähige Leute wurde zu Hause immer gelästert, über solche, die langsam ihrer Wege gingen, denn „denen kann man während dem Gehen die Schuhe flicken“ oder „der hat sie nicht alle der Reihe nach“ hat zwar noch alle Tassen im Schrank, will heißen ist formal in Ordnung, aber eben etwas durcheinander, also so, dass es nicht in die dörfliche Ordnung passt. Eine Ordnung, wo jeder genau weiß, was zu tun und was lieber nicht zu tun ist.

Die Mutter hat nur mit wenigen Leuten im Dorf Kontakt, dennoch weiß sie genau was sich gehört und noch viel mehr, was sich nicht gehört. Das Fernglas griffbereit am Fensterbrett ist sie stets bestens informiert. Mathildas Mutter behält ihr Wissen für sich. Wer viel weiß ist anderen überlegen.

Und jetzt weiß sie nicht, was Mathilda macht. Weiß nicht, was sie sagen soll. Hat Angst, dass es herauskommt, dass ihre Tochter in der Psychiatrie war und jetzt nicht mehr arbeiten kann. Oh Schande. Die Tochter in der Psychiatrie. Na ja, zum Glück wohnt diese ja weit weg, sehr weit. In der fernen Stadt wird sie bestimmt niemand aus dem Dorf antreffen. Aber wissen kann man das nie. Heute kommen die Leute überall herum.

Mathilda meidet den Kontakt mit Menschen, um nicht über sich sprechen zu müssen. Sie beteiligt sich nicht mehr am Vereinsgeschehen, geht nicht mehr zum Tanzkurs.


Sie ist in die Stadt gezogen, wo niemand mitbekommt, ob sie am Vormittag oder am Nachmittag oder den ganzen Tag zu Hause ist. Viele Freundschaften gingen verloren, viele, denen Mathilda nichts von sich erzählen mag und manche, denen sie von der Depression erzählt hat, von ihrem Zusammenbruch, die rasch mit Ratschlägen zur Stelle waren, genau wissen, was sie tun solle. Und untereinander tuscheln.

Sie müsse halt aufhören Trübsinn zu blasen. Der Trübsinn ist nämlich graue schleimige Flüssigkeit in Dosen und der wird wie Seifenblasen in die Luft gepustet und alles wird dann grau und trüb. Und wer solche Dosen öffnet und den Trübsinn bläst und den Tag damit vernebelt ist ganz und gar alleine schuld.

Manchmal wünscht Mathilda all diesen Besserwissern auch eine Depression an den Hals, damit diese erkennen, welchen Schwachsinn sie da von sich geben. Aber, nein. Eine Depression wünscht sie wirklich niemanden! Sie wünscht ja auch niemandem Krebs. 

Vielleicht wäre Krebs doch besser? Wenn man sich das aussuchen könnte? „Krebs, oje, die Arme“ würden dann die Leute reden, „Wie schlimm. Hoffentlich geht’s gut.“ Krebs bringt Aufmerksamkeit, Zuneigung. Eine Depression bringt nichts dergleichen. Nur Verachtung. Scham. Zurückweisung.

Wut steigt in Mathilda auf. Die Mutter hat dazu beigetragen, dass Mathilda in diese Situation gekommen ist. Aber das darf niemand laut sagen, nie würde Mathilda es wagen, die Mutter damit zu konfrontieren. Vielleicht weiß sie es ja, irgendwo in ihrem Inneren? Fühlt sich schuldig und will ein für alle Mal, dass niemand mehr darüber reden braucht, dass Mathilda wieder so wie früher ist.

Ja Mutter, das wünsche ich mir auch. Aber ohne Tod gibt es keine Auferstehung. Sich gegen den Henker zur Wehr setzen verzögert das Leiden. Es gibt kein Entrinnen. Das Leben ist genau. Und geduldig. Widerstand ist zwecklos.

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